«Menschen sind das wichtigste Kapital»
Immer mehr Stress, immer mehr Druck: für viele Arbeitnehmende heute bittere Realität. Dalith Steiger-Gablinger berät Firmen zum strategischen Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI) und ist überzeugt: KI gibt uns Zeit zurück, verhilft uns sogar zur 30-Stunden-Woche. Ihre Vision: humane Zukunftswirtschaft.
Sarah Hadorn
Frau Steiger, Weihnachten naht – für Sie eine besinnliche oder sehr stressige Zeit?
Für mich ist das eine total besinnliche Zeit. Ich mache mir zum Beispiel nicht den Druck, tausend Geschenke zu kaufen. Viel lieber schenke ich meiner Familie und meinen Freunden Zeit – in unserer heutigen Welt ein knappes Gut.
Das gilt auch in der Arbeitswelt. Sie sind Expertin für künstliche Intelligenz (KI): Wie beeinflusst KI die zeitlichen Ressourcen von Arbeitnehmenden?
KI übernimmt immer öfter repetitive Arbeiten, optimiert Prozesse oder erledigt Aufgaben, bei denen es um Geschwindigkeit und Qualität geht. Da übertreffen uns künstlich intelligente Systeme bereits häufig. Durch die gewonnene Zeit bleiben mehr Arbeitsstunden für menschenbezogene Aufgaben. Pflegende im Altersheim können sich zum Beispiel länger ihren Patientinnen und Patienten widmen, statt viel Zeit in Administratives zu stecken. Kundenberaterinnen und Kundenberater haben mehr Zeit für den direkten Kundenkontakt. Ich bin ja ursprünglich Mathematikerin. Wenn ich die Rechnung mache, bin ich überzeugt: KI gibt uns wertvolle Zeit zurück.
Ganz ehrlich: Wir von transfair sind da skeptisch. Unsere Befürchtung: Firmen nutzen den Produktivitätsgewinn, um Kosten zu sparen, sprich, um Stellen zu streichen. Und die übrigen Mitarbeitenden haben noch mehr Stress.
Ich verstehe diese Skepsis – diese ist teils auch begründet. Als Unternehmerin, die nicht auf kurzfristigen Profit fokussiert ist, weiss ich aber: Arbeitgeber müssen für ihre Mitarbeitenden Verantwortung übernehmen, in ihre Gesundheit und Motivation investieren. Um Firmen zu befähigen, den Weg ins menschenzentrierte KI-Zeitalter zu gehen, hat unser KI-Beratungsunternehmen (Anm. d. Red.: siehe Kasten) die Initiative «Humane Zukunftswirtschaft» ins Leben gerufen. In der Praxis erleben wir damit schon heute ein tragfähiges Win-win aus Wirtschaftswachstum und erfüllten menschlichen Bedürfnissen. Menschen sind das wichtigste Kapital eines Unternehmens – und zwar in zweierlei Hinsicht.
Wie meinen Sie das?
Wir Menschen sind als Arbeitnehmende, aber auch als Kundinnen und Kunden unabdingbar für eine florierende Wirtschaft. Was haben Unternehmen denn davon, wenn alle ein Burn-out haben und niemand mehr konsumiert? Es ist weder im Sinne der Gesellschaft noch der Wirtschaft, wenn Arbeitgebende Menschen-Verschleiss betreiben. Ich finde es wichtig, dass wir den Zeitgewinn, der durch Technologie entsteht, in Aufgaben investieren, die den Mitarbeitenden Spass machen, aber auch in echten Zeitwohlstand. Damit meine ich: mehr Freizeit für die Mitarbeitenden.
„„Es ist weder im Sinne der Gesellschaft noch der Wirtschaft, wenn Arbeitgebende Menschen-Verschleiss betreiben.“
Sie sagen: KI ermöglicht uns bei gleichem Gehalt die 30-Stunden-Woche.
Ganz genau. Andere europäische Länder haben es ja sogar schon vor KI geschafft, mit einer 30-plus-Stundenwoche ihre Wirtschaft aufrechtzuerhalten. Und mit KI schaffen wir jetzt in derselben Zeit mehr Arbeit als früher. Wir sehen bei unseren Kunden und Kundinnen heute schon, dass der wirtschaftliche Output mit KI langsam, aber sicher steigt. Arbeitgeber sollten den Output des Unternehmens messen, nicht die Präsenz ihrer Leute. So bleibt den Mitarbeitenden mehr Zeit für Ausgleich: Familie, Sport, Freunde.
Bei all dem Kostendruck aktuell: Ist das wirklich realistisch?
Die (volks-)wirtschaftlichen Argumente sind bestechend: Unternehmen, die ihren Angestellten Sorge tragen, sind sichtbar erfolgreicher. Eine niedrigere Wochenarbeitszeit reduziert aber auch die Gesundheitskosten und die Belastung beim Staat. Zu viele Familien stehen unter Druck, weil beide Elternteile eine enorme Arbeitsbelastung haben – das wirkt sich häufig negativ auf das Familienleben aus und führt zu einem hohen Verlust von Lebensqualität.
Nehmen wir jetzt einmal an, die humane Zukunftswirtschaft setzt sich durch: Trotzdem werden nicht alle Jobs überleben.
Ja, jede Einführung einer neuen Technologie bringt Härtefälle mit sich. Hier braucht es tragfähige Lösungen für die Betroffenen – über Umschulungen oder dann über die Sozialversicherungen. Aus meiner Sicht wird die Arbeitslosenversicherung (ALV) wohl vorübergehend stärker, die Invalidenversicherung (IV) dafür weniger belastet werden. Denn wir dürfen nicht vergessen: KI wird vielen Menschen, etwa mit körperlicher Beeinträchtigung, auch Zugang zum Arbeitsmarkt verschaffen. Ich denke da zum Beispiel an Technologie, die die Zitterfrequenzen bei Parkinson ausgleicht.
Welche neuen Jobs entstehen durch KI?
Zum Beispiel Prompt Engineer, der generative KI wie ChatGPT füttert, oder Datenethikerin. Aber auch in der Krankheitsdiagnostik oder Risikoabschätzung kommt vermehrt KI ins Spiel. Dabei immer absolut wichtig: Die Verantwortung bleibt beim Menschen. Im Gegensatz zu KI haben wir nämlich ein Bauchgefühl. Dieses ist gerade in sicherheitsrelevanten Berufen zentral, um gute Entscheidungen zu treffen.
Zur Person
Dalith Steiger-Gablinger (54) ist Mathematikerin mit Spezialisierung auf computergestützte Biologie (Computational Biology). 2016 hat sie das KI-Beratungsunternehmen SwissCognitive gegründet, das Firmen zu ihrer KI-Strategie berät und in KI-Start-ups investiert. Seit 2009 leitet sie das Swiss IT Leadership Forum und sitzt als KI-Expertin in diversen Gremien wie dem Creative Destruction Lab in Paris.
KI und Zeit: Das fordert transfair im Service Public
Im Service Public, speziell im öffentlichen Verkehr und bei Post/Logistik, wird die Arbeitszeit bereits heute bis an die gesetzlichen und vertraglichen Grenzen ausgereizt: Pausen werden nicht immer eingehalten, die Erholungszeiten zunehmend verkürzt. Die Belastung für die Mitarbeitenden steigt stetig – physisch und psychisch.
Die gewonnene Zeit fair verteilen!
Die Einführung von KI verschärft dieses Problem leider häufig: Unternehmen nutzen die Technologie als Grundlage, um Stellen abzubauen oder die Produktion auszuweiten. Beides heisst für die Mitarbeitenden: noch mehr Arbeit in der gleichen Zeit. Das darf nicht sein. transfair fordert, dass KI-bedingte Effizienzgewinne fair und sozialverträglich verteilt werden. Konkret sollen die Arbeitgeber im Service Public
- in die Mitarbeitenden investieren – durch Weiterbildung, Umschulung und Kompetenzaufbau.
- zur Entlastung und Erholung beitragen – durch Arbeitszeitverkürzung, zusätzliche Ferien oder flexible Arbeitszeitmodelle.
- soziale Abfederungsmassnahmen bereitstellen – etwa durch frühzeitige Pensionierungsmöglichkeiten für ältere Mitarbeitende.
Insbesondere die Verkürzung der Arbeitszeit sieht transfair als zentrales Ziel. Die durch KI gewonnene Zeit darf nicht zu mehr Stress führen, sondern muss zur Erholung und Gesundheit der Mitarbeitenden beitragen!
Der Plan: KI-Auswirkungen als Teil unserer Verhandlungen
Um diese Forderungen umzusetzen, arbeitet transfair darauf hin, dass die Auswirkungen von KI auf die Mitarbeitenden künftig Teil der sozialpartnerschaftlichen Verhandlungen sind. In diesen Verhandlungen wird transfair auch sicherstellen, dass die Mitarbeitenden bei der Einführung von KI ausreichend einbezogen werden beziehungsweise mitwirken können. Hierfür fordern wir:
- Frühzeitige Evaluation der Betroffenheit je Berufsgruppe
- Transparente Kommunikation über Ziele, Risiken und Chancen
- Begleitung und Schulung bei der Einführung neuer Systeme
- Beratungsangebote, die auf die spezifischen Bedürfnisse der Berufsgruppen zugeschnitten sind