Ein bisschen anders

Wenn das Gehirn etwas anders gestrickt ist: Arbeiten mit ADHS, Autismus und Co.

Bis zu 30 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer sind neurodivergent: Ihr Gehirn funktioniert anders als bei den meisten Menschen. Sie haben es in unserer Arbeitswelt oft schwer. transfair macht sich für Chancengleichheit stark und will deshalb wissen: Wie können Unternehmen Arbeitnehmende mit ADHS, Autismus oder Dyslexie besser integrieren? Und: Wie weit ist hier der Service Public?

Sarah Hadorn Sarah Hadorn
 Ein Bild von der Interviewten Person

Stefanie Heidrich sagt, was sie denkt. Oft schiesst sie einfach impulsiv drauflos. Wenn sie spricht, folgt sie ihren ganz eigenen Gedankenketten. «Ich springe von A zu B über Z und komme wieder zurück», beschreibt es die UX-Designerin bei Swisscom. Alles Geordnete, Organisatorische ist ihr ein Graus. Nicht selten vergisst sie, ihre Stunden einzutragen. Und an Remote-Meetings hört sie häufig nebenbei Musik. «Dieser zusätzliche Reiz hilft mir, besser dabeizubleiben», so die 39-Jährige.

Stefanie Heidrich hat ADHS. Damit gehört sie zu den – je nach Studie – 15 bis 30 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer mit Neurodivergenz. Will heissen: Ihr Gehirn funktioniert anders als bei den meisten Menschen. «Neurodivergente Personen nehmen zum Beispiel anders wahr als neurotypische», sagt Bettina Horber, Neurodiversitäts-Coach und Unternehmensberaterin. Das kann eine intensivere, weniger intensive oder sehr detailreiche Wahrnehmung sein. Viele Details lösen wiederum oft Gedankensprünge aus. Zudem werden Informationen anders verarbeitet: in Bildern, Mustern oder mit mathematischen Konzepten. Bei neurotypischen Menschen führt der Weg meist über Sprache. «Drittens funktioniert der Stoffwechsel im Gehirn manchmal anders», erklärt Horber. Dadurch reagieren Menschen mit ADHS zum Beispiel stärker auf unmittelbare Belohnungen als auf künftige.

Nebst ADHS zählen auch Autismus, Dyslexie, Dyskalkulie und Dyspraxie zu Neurodivergenz. Dyslexie meint Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben, Dyskalkulie eine Rechenschwäche. Dyspraxie äussert sich oft in motorischer Ungeschicktheit, also «Tollpatschigkeit». Manche Studien schliessen auch Tic-Störungen wie das Tourette-Syndrom und Hochsensibilität mit ein.

Zwischen Superpower und Belastung

Die meisten dieser Funktionsweisen des menschlichen Gehirns gelten als Störungen: Sie sind in der Internationalen Krankheitsklassifikation ICD-11 gelistet. Zunehmend setzt sich aber ein Denkansatz durch, der auf die positiven Seiten von Neurodivergenz fokussiert. «Auch Schweizer Unternehmen denken vermehrt um – aus gutem Grund», weiss Bettina Horber. Schliesslich bringen neurodivergente Arbeitnehmende «frischen Wind». Studien zeigen: Teams aus neurodivergenten und neurotypischen Arbeitnehmenden lernen am besten. Horber: «Unternehmen, die beide Gruppen kombinieren, sind innovativer und effizienter.»

Es geht aber nicht nur um Diversität: Neurodivergenz selbst ist auch eine Superpower. Stefanie Heidrich etwa denkt blitzschnell, verknüpft verschiedenste Themen innert Sekunden und arbeitet extrem fokussiert, wenn sie eine Aufgabe begeistert. «Viele Menschen mit ADHS haben zudem eine sehr breite Lernkurve», sagt sie. «Bildlich gesprochen: Wenn wir einen Waldweg entlanggehen, lernen wir auch, welche Steine und Pflanzen dort vorkommen. Denn wir achten auch auf Nebenschauplätze.»

Dennoch bleibt Heidrich eine neurodivergente Arbeitnehmerin in einer neurotypischen Arbeitswelt: Eine Tür in ihrem Sichtfeld lenkt sie schnell ab. Mit Diplomatie und Höflichkeitsformeln weiss sie wenig anzufangen. Und sogar ein Mindestmass an Planung fällt ihr schwer. «Viele Jahre versuchte ich, mich anzupassen, mich zu maskieren», sagt sie. «Das war sehr anstrengend. Für viele Betroffene ist ADHS deshalb keine Superpower, sondern eine Belastung.»

Akzeptanz und Verständnis, dass jemand anders ist

Bei Swisscom ist das Thema Neurodivergenz seit zwei Jahren auf dem Tisch. Heidrich spielt dabei eine zentrale Rolle: Sie ist Mitglied der gegründeten Neurodiversity Community. Diese hat angestossen, was Swisscom für Mitarbeitende mit ADHS oder Autismus tun soll. «Letztlich ist es keine grosse Wissenschaft», betont Heidrich. «Es geht um die Akzeptanz und das Verständnis, dass jemand anders ist.»

Grundlage dafür ist psychologische Sicherheit, darin sind sich Heidrich und Roxana Achermann vom Swisscom-HR einig. «Mitarbeitende müssen wissen, dass sie keine Nachteile haben, wenn sie offen mit ihrer Neurodivergenz umgehen», sagt Achermann, Talent und Diversity, Equity & Inclusion Manager bei Swisscom. Diese Gewissheit sei wiederum zentral, um überhaupt Rücksicht nehmen zu können.

Mittlerweile hat Swisscom einen Strauss von Massnahmen entwickelt, darunter «Ask-me-anything-Events», an denen Betroffene die Fragen ihrer Kolleginnen und Kollegen beantworten. Oder ein E-Learning über Neurodivergenz, das kurz vor der Einführung steht. So soll das Verständnis betriebsweit gefördert und die Zusammenarbeit verbessert werden.

Weiter sensibilisiert Swisscom gezielt ihre Führungskräfte. «Unsere Leader kennen ihre Mitarbeitenden am besten und können für sie das richtige Arbeitsumfeld schaffen», erklärt Achermann die Strategie. Für zusätzliche Unterstützung gibt es bei Swisscom eine spezialisierte Stelle.

Das Zauberwort: Individuell

Der Ansatz von Swisscom ist also sehr individuell – bei Neurodivergenz das Wort der Stunde. «Kennst du eine neurodivergente Person, kennst du nämlich genau eine neurodivergente Person», hält Stefanie Heidrich fest. Der Grund: ADHS und Co. verlaufen alle auf einem Spektrum. «Wobei man sich diese Spektren nicht linear vorstellen darf», schaltet sich Neurodiversitäts-Spezialistin Bettina Horber ein. «Vielmehr ist es wie bei einem DJ-Pult, das verschiedene Regler für Lautstärke, Bass oder Höhen hat.» Betroffene brauchen also alle etwas anderes. Ein Swisscom-Mitarbeiter mit Autismus sitzt zum Beispiel an einem abgeschirmten Arbeitsplatz, hat geräuschdämpfende Kopfhörer zur Verfügung und geht jeweils um 14 Uhr nach Hause. Damit werden die für ihn anstrengenden sozialen Interaktionen beschränkt. Stefanie Heidrich wiederum braucht vor allem Freiraum und Vertrauen.

Neben den individuellen setzt Swisscom auch auf generelle Massnahmen: ruhige Arbeitsplätze und Pendelmöglichkeiten ausserhalb der Stosszeiten, um die Reize zu reduzieren. «Das erreichen wir mit grosszügigen Homeoffice-Regelungen und flexiblen Arbeitszeiten, die Swisscom ohnehin hat», sagt Roxana Achermann. Zudem installiert das Unternehmen nach und nach in allen Büros zusätzliche Ruhezonen, Schallschutzwände und verstellbare Lichtquellen. «Das ist auch mir als neurotypische Mitarbeiterin sehr wichtig», so Achermann. Damit macht sie deutlich: Fühlen sich Mitarbeitende mit Neurodivergenz wohl, tun es auch viele andere.

Mitarbeitende mit ADHS oder Autismus: Das tun SBB, Post und öffentliche Verwaltung

transfair setzt sich für Chancengleichheit und zufriedene Mitarbeitende im Service Public ein. Wir begrüssen die Initiative von Swisscom deshalb sehr. Leider sind die meisten anderen Arbeitgeber deutlich weniger weit. Die SBB ist das einzige andere grosse Service-Public-Unternehmen, das gezielt auf neurodivergente Mitarbeitende eingeht: Sie hat eine Community, die den Austausch mit Betroffenen fördert und Informationen anbietet. Zudem sensibilisiert sie ihre Führungskräfte und führt Schulungen zu unbewussten Vorurteilen durch. Die Post und die öffentliche Verwaltung haben zwar verschiedene Inklusions-Projekte, aktuell aber keine gezielten Programme für neurodivergente Mitarbeitende. transfair würde es begrüssen, wenn hier noch aufgeholt würde.